Snyder, Timothy - Bloodlands by Europa zwischen Hitler und Stalin

Snyder, Timothy - Bloodlands by Europa zwischen Hitler und Stalin

Author:Europa zwischen Hitler und Stalin
Format: epub


Jede Phase des Massenmords an den Warschauer Juden war so schlimm, dass sie die Hoffnung erzeugte, die Zukunft könne nur besser werden als die unmittelbare Vergangenheit. Manche Juden glaubten wirklich, die Arbeit im Osten werde besser sein als das Ghetto. Wenn die Menschen am Umschlagplatz standen, kann man den Gedanken verstehen, die Fahrt im Zug werde besser sein als das endlose Warten in der Sonne ohne Nahrung, Wasser und sanitäre Einrichtungen. Der Umschlagplatz wurde von jüdischen Polizisten bewacht, die gelegentlich Menschen gehen ließen, die sie kannten oder von denen sie bestochen wurden. Der Chronist Emanuel Ringelblum hielt fest, dass die Polizisten manchmal neben Bargeld auch Sex von den Frauen, die sie retteten, verlangten.[33]

In den Zügen verblassten die Illusionen. Obwohl man ihnen versicherte, ihr Ziel sei ein Arbeitslager «im Osten», müssen einige Juden vermutet haben, dass dies gelogen sei, schließlich waren gerade die Menschen mit Arbeitsdokumenten in Warschau geblieben. Wenn es um Arbeit ging, warum waren Kinder und Alte zuerst geschickt worden? Die Züge bekamen die niedrigste Priorität im Bahnsystem und brauchten oft Tage, bis sie ein Ziel erreichten, das eigentlich nahe bei Warschau lag – Treblinka lag nur rund 100 Kilometer nordöstlich. Die Juden erhielten weder Wasser noch Lebensmittel und starben bei vielen Transporten in großer Zahl. Kinder leckten einander den Schweiß ab. Mütter warfen manchmal kleine Kinder aus dem Zug, weil sie ahnten, dass sie in der Wildnis eher überleben würden als am Ziel der Fahrt. Manche Eltern erzählten ihren im Ghetto geborenen Kindern, was durch die Fenster oder die Risse in den Türen zu sehen war. Die kleinsten hatten nie zuvor Felder oder Wälder gesehen und würden auch nie mehr welche sehen.[34]

Während die Züge vorbeifuhren, riefen Polen zu ihnen hinüber. Die Geste eines über die Kehle gezogenen Fingers, an die sich einige Überlebende mit Abscheu erinnerten, sollte den Juden sagen, dass sie sterben würden – wenn auch nicht unbedingt, dass die Polen ihnen dies wünschten. Manche Polen fragten nach Geld, andere, die vielleicht mehr Mitleid hatten, nach den Kindern. Yankiel Wiernik erinnerte sich an seinen eigenen Transport, der früh aus Warschau abging: «Mein Blick erfasste jeden und alles, aber ich konnte die Größe meines Unglücks nicht begreifen.» Niemand konnte das.[35]

Jeder Transport bestand aus 57 bis 60 Waggons mit 5000–6000 Menschen. An dem Treblinka nächstgelegenen Bahnhof blieb er stehen. Dann kam nach einer Wartezeit von Stunden oder sogar Tagen eine andere Lokomotive und zog 19 oder 20 Waggons (1700–2000 Menschen) auf ein Gleis innerhalb der Todesfabrik. Die zweite Lokomotive schob die Waggons, statt sie zu ziehen, so dass der Lokomotivführer rückwärts fuhr und die Anlage nie vor sich sah oder betrat.[36]

Die Menschen, die nach dem Transport noch am Leben waren, wurden von Trawniki-Männern mit Pistolen und Peitschen aus den Waggons geholt. Fast alle nach Treblinka deportierten Juden starben in diesen ersten Wochen, aber nicht so reibungslos wie in Bełżec und Sobibór, und nicht so, wie von den Deutschen geplant. Die regelmäßigen und umfangreichen Transporte hatten die kleinen Gaskammern von Treblinka rasch überfordert, darum führten Deutsche und Trawniki-Männer Erschießungen durch. Das war nicht das, wofür die Trawniki-Männer ausgebildet worden waren.



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